Es sind diese seltenen Gelegenheiten im Plenum des Deutschen Bundestages, dass die Abgeordneten in ihr Innerstes Einblick gewähren. Manche Politiker berichten Persönliches, andere ziehen sich auf ihren Wertekanon zurück. Am 21. April 2021, einem Mittwochnachmittag, gab es zwei Stunden Zeit für Stellungnahmen. Eine so genannte „Orientierungsdebatte“ ohne konkrete Abschlussabstimmung war anberaumt, Anlass: die Frage, wie nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vor 15 Monaten nun mit der Frage der Suizidhilfe umzugehen sei.
38 Wortbeiträge zu je drei Minuten sind vorgesehen. Den Beginn machen eher konservativ orientierte Abgeordnete. Ansgar Heveling (CDU) würde gerne eine Strafandrohung für Helfende erneut festschreiben, so hat er es in einem gemeinsamen Eckpunktepapier mit Hermann Gröhe u. a. notiert. Beatrix von Storch (AfD) beschwört die „Büchse der Pandora“, die eine liberale Regelung öffnen würde. Sie wertet einen Suizid stets als „Ausdruck von Verzweiflung“. CDU-Politiker Prof. Dr. Lars Castelucci ist einer der Autoren von insgesamt drei ersten Gesetzentwürfen. Sein Text, ein Eckpunktepapier, spricht sich für eine Regelung im Strafgesetzbuch (StGB) aus.
Als vierte Rednerin spricht Katrin Helling-Plahr (FDP), mit deren liberalem Entwurf die DGHS eher sympathisiert. Darin ist ausdrücklich von einem flächendeckenden Beratungsangebot die Rede. Dr. Petra Sitte (Die Linke) pflichtet ihr bei: „Sterbehilfe ist Lebenshilfe.“
Für den dritten vorliegenden Gesetzentwurf steht Renate Künast (Bündnis 90/Die Grünen), die bei den Sterbewilligen nach Vorliegen einer schweren Krankheit differenzieren will. „Ein rechtssicherer Weg“ werde benötigt. Nach weiteren Wortbeiträgen von Vertretern aller Fraktionen mahnt Dr. Kirsten Kappert-Gonther (B 90/Die Grünen) ein „Schutzkonzept“ an. Hermann Gröhe (CDU), einstmals Bundesgesundheitsminister, bedauert die Gerichtsentscheidung ausdrücklich. Er hatte sich sehr für den alten § 217 StGB stark gemacht. Eher als Befürworter des Urteils präsentieren sich Dr. Wieland Schinnenburg (FDP) und Gesine Lötzsch (Die Linke).
Der einstige Wortführer für eine Strafrechtsverschärfung, Michael Brand (CDU), ist heute Sprecher für Menschenrechte und (sic!) humanitäre Hilfe. In seinem Beitrag geht es darum, dass die Schwachen vor der Suizidhilfe geschützt werden müssten. Ein Abgeordneter der AfD, der Jurist Thomas Seitz, vertrat die Auffassung, „Ärzte müssen helfen dürfen“ und lehnt Tabuisierung ab. Für eine Rüge durch den Sitzungspräsidenten sorgt die SPD-Politikerin Kerstin Griese, weil sie in ihrem Furor gegen die Suizidhilfe ihre Redezeit überzieht. Eine „Normalisierung“ durch die Existenz von Beratungsstellen lehnt sie ab, es müsse Schutz vor „Druck und vor irreversiblen Entscheidungen“ geben. SPD-Politiker Professor Dr. Edgar Franke betont, dass nach dem Urteil durch den Gesetzgeber ein Rahmen geschaffen werden muss.
In seiner Eigenschaft als Abgeordneter geht Jens Spahn (CDU), der amtierende Bundesgesundheitsminister, ans Rednerpult. Er hebt auf die „Fürsorgepflicht des Staates“ ab. Als er von dem Urteil gehört hat, habe er „schwer schlucken“ müssen. Wieder betont er, dass es keine Verpflichtung des Staates geben könne, geeignete Medikamente zur Verfügung zu stellen. Der noch nicht veröffentlichte Arbeitsentwurf aus seinem Ministerium sieht einen regulatorischen Rahmen vor, der Ärzte schützen solle, der Aufklärung und ein Werbeverbot vorsieht und die Umsetzung von Suizidhilfe nur durch Ärzte und durch gemeinnützige Vereine erlauben will.
Nach einigen weiteren Rednern endet die Orientierungsdebatte kurz vor halb sechs. Dem offiziellen Protokoll konnten noch ergänzende Wortbeiträge eingereicht werden. Die Legislaturperiode endet in wenigen Monaten, so dass mit einer weiteren Behandlung des Themas oder gar einer Verabschiedung eines der vorliegenden Gesetzestexte vor der Bundestagswahl nicht zu rechnen ist. Also gilt weiterhin die aktuelle Gesetzeslage. Es ist erlaubt, was nicht verboten ist. Suizidhilfe für Menschen, die ihren dauerhaften Entschluss aus freien Stücken gefasst haben, nicht von Dritten beeinflusst sind und Einsichtsfähigkeit aufweisen, kann nicht bestraft werden. Es sei denn, die Helfer haben gegen andere geltende Gesetze oder eine der ärztlichen Landesberufsordnungen (die bald geändert werden dürften!) verstoßen.